Literatur des Monats

Ab September stellen wir auf dieser Seite literarische Beiträge unserer Autoren vor:
Zunächst Texte des Verlagsgründers H. Protsch - dieses Mal -eine SF-Geschichte:

NOVEMBER
Eis und heiß
Es war lausig kalt heute. Minus achtundvierzig Grad und es schneite. Als die
Touristen von Bromelia hier auf Kensiko eintrafen – in Shorts und T-Shirts –
froren sie erbärmlich. Warum hatte man ihnen nicht gesagt, dass hier so
arktische Temperaturen herrschten. Und der Bus, der sie zu ihrem Hotel bringen
sollte, ließ ebenfalls auf sich warten.

Das „Blaue Auge“ kam. Es zog von Westen herauf über den Horizont, der von Eisbergen
wie gesägt erschien. Das Blaue Auge war ein permanenter Zyklon, der die Welt in
sechsundneunzig Tagen umkreiste und dabei jedes Mal eine andere atmosphärische
Umlaufbahn benutzte. Dieses Mal würde er genau über diesen Bereich hinwegfegen
und wenn der Bus nicht vorher kam, würden die Touristen wie Hotdogs in Eis
aussehen.

In der Stadt Nujinchiware war die Hölle los. Die gesamte Energieversorgung war
zusammengebrochen. Die Elektro-Funkcars standen kreuz und quer auf allen
Straßen der Stadt, ebenso die privaten Eltessen, die einzigen Autos, die hier
zugelassen waren. Man konnte froh sein, dass der mehr als tausend Meter dicke
Eisschild, der den Planeten Kensiko umgab, über der Stadt lag, und die Wärme
der Stadt einigermaßen festhielt, sonst hätte das Blaue Auge die „Icescraper“
weggefegt, wie eine der siebzigseitigen Tageszeitungen. Der Hotelbus stand an
der Schleuse und konnte nicht weiter, sein Antrieb war durch den Ausfall der
Energie lahmgelegt und auch die Schleuse funktionierte nicht. Obwohl also alle
Ausgänge der Stadt dicht waren, machte sich der Temperaturverlust allmählich
bemerkbar. Statt der üblichen konstanten vierundzwanzig Grad Lufttem-peratur
zeigte das Thermometer in der Zentrale der Energieversorgungs-Gesellschaft
bereits vier Grad weniger. Es herrschte hektische Betrieb-samkeit, aber bisher
war noch nicht einmal der Fehler gefunden. Und es musste ein schwerwiegender
Fehler sein, sonst wäre nicht die ganze Energie versiegt.
„Der Fusionsreaktor ist ausgefallen!“ rief ein Techniker im Vorbeirennen in die
Zentrale.
„Strahlung?“ fragte der leitende Ingenieur zurück, aber der Techniker hörte ihn schon nicht
mehr.
Jetzt klingelten die Telefone, als hätte sich alle Welt ins Netz geschaltet.
,Ein Glück, dass wenigstens das Telefon seine eigene Energieversorgung hat‘, dachte
der Ingenieur. 
Aamul Kachaik landete mit seinem Schiff auf Kensiko zehn Minuten, nachdem die
Touristen angekommen waren. Er sah sie stehen, eng zusammengedrängt.
„Was ist denn hier los?“ sagte er zu seinem ersten Offizier. „Geh doch bitte mal
über unsere Landetreppe zu denen rüber und frage, warum kein Hotelbus gekommen
ist.“
Der erste Offizier rannte los und war kurz darauf bei ihnen: „Wer hat euch denn hier
abgeladen? Ist der Bus nicht gekommen? Was ist los hier?“
Er bekam keine Antwort. Niemand bewegte sich. Die Beine waren feuerrot, die
Gesichter waren alle nach innen gewandt.
Irgendwo aus der Mitte sagte jemand: „Es ist saukalt. Kannst du uns irgendwie bei dir
unterbringen?“
„Ja“, sagte er. „Kommt mit.“
Die gleiche Stimme: „Wir können nicht, wir sind festgefroren.“
„Ach du allmächtiges Weltall. Moment.“
Während er zurück zum Schiff rannte, dachte er: „Jetzt benutze ich auch schon diesen
blöden Ausspruch vom Kapitän. Als er bei ihm stand, sagte er: „Die sind
festgefroren. Die können nicht herkommen. Wir müssen sie irgendwie holen.“
Kachaik antwortete: „Ach du allmächtiges Weltall. So eine Sauerei. Wieso hat der
Kapitän von denen die einfach aus dem Schiff geschmissen und ist davon
geflogen, ohne zu prüfen, ob die auch abgeholt werden. Der Hotelbus hätte doch
schon da stehen müssen. Und wenn nicht, kann ich doch meine Passagiere nicht
einfach rausschmeißen. Das ist eine Erzschweinerei.“
Er hatte bereits sein Schiff gestartet. und flog in einiger Höhe hinüber zu den
frierenden Touristen. Derweil gab der erste Offizier eine Durchsage: „Achtung.
Bitte keine Beunruhigung, meine Damen und Herren. Wir müssen noch einmal
starten, um ein paar Touristen an Bord zu nehmen. Danach sehen wir erst einmal
nach, was hier los ist. Bleibt also bitte auf euren Plätzen.“
Kachaik flog mit dem Schiff so hoch, dass – wie er glaubte – die Abgase der Triebwerke
nur noch eine erträgliche Temperatur auf dem Eisboden hatten. Er musste sich
beeilen, denn das Blaue Auge rückte beängstigend schnell näher. Als er hoch
genug war, ließ er das Schiff seitlich hinüber gleiten und taute auf diese
Weise die Touristen wieder auf. Dann landete er möglichst nahe und nahm die
Touristen an Bord – die, die noch lebten, denn die die außen standen, waren
stocksteif erfroren. Aber auch die anderen waren von der Kälte und jetzt von
der Triebwerkshitze zum Teil arg mitgenommen. Alle mussten in die Bordklinik.
Die beiden Ärzte und die Medoroboter hatten nun alle Hände voll zu tun. Bei zwei
Touristen mussten jeweils beide Unterschenkel amputiert werden – sie waren
erfroren – bei einer Dame waren die Haare und große Areale der Haut verbrannt.
Von ihrer „jugendlichen Schönheit“ würde wohl nicht mehr viel bleiben. Und bei
den restlichen waren dringend Erste-Hilfe-Maßnahmen erforderlich, sonst hätten
sie diese Art Eiskur nicht überstanden.
„Achtung, eine Durchsage an alle. Hier spricht Kapitän Kachaik. Wir sind, wie ihr wisst,
auf dem Planeten Kensiko. Dieser Planet ist ein Eisplanet. Das Leben spielt
sich unter dem etwa 1500 Meter dicken Eispanzer ab, der den ganzen Planeten
bedeckt. Es gibt nur drei Siedlungen, die jeweils für sich autark sind. Wir
stehen jetzt auf dem Flugfeld von Nujinchiware, der größten Stadt. Kensiko ist
bekannt für seine Eiskuren  und seine köstlichen Heißdesserts, die immer nach den Eiskuren serviert werden. Aber Kensiko hat noch eine Besonderheit. Das „Blaue Auge“ – weiß jemand nicht, was das ist?“
Keiner meldete sich
„Umso besser. Jetzt ist es leider so, dass etwas in Nujinchiware passiert sein muss,
weil offensichtlich kein Bus kommt, die Reisenden in die Stadt zu bringen. Zudem
wird das Blaue Auge in Kürze dieses Flugfeld hier erreichen. Wenn ich hier
stehen bleibe, wird uns der Zyklon wie ein Stück Papier davonwirbeln. Deshalb
muss ich wieder starten. Das heißt aber, keiner darf krank werden, es darf
nichts passieren., denn ich habe keinerlei Unterbringungsmöglichkeiten mehr.
Die Bordklinik ist durch die Touristen überbelegt. Deshalb bleibt auf euren
Sitzen. Schnallt euch fest. Ich starte jetzt. Die ersten Auswirkungen des
Zyklons sind bereits zu spüren. Achtung!“
Dann war Ruhe. Der Andruck presste die Passagiere in die Sitze. Aber plötzlich
spürten sie, dass das Schiff nicht mehr stieg, sondern seitlich wegscherte,
begann, sich um sich selbst zu drehen. Immer schneller, wie ein Karussell, das
außer Kontrolle geraten ist. Und in der Tat – Kapitän Aamul Kachaik hatte die
Kontrolle über sein Schiff verloren, das Blaue Auge hatte es eingefangen und
machte mit ihm, was es wollte.
Auch der Fusionsreaktor in Nujinchiware machte, was er wollte. Obwohl die Techniker
ihn zwar – vorsichtshalber – abgeschaltet hatten, gelang es ihnen nicht, die
zwei Elemente zu trennen. So kam es, dass der Reaktor – trotz Abschaltung –
sich von selbst wieder in Betrieb setzte. Etwas, das die Techniker eigentlich
für unmöglich erachteten. Nun lief er aber und so nahmen die Techniker die
Abschaltung wieder zurück. Energie floss erneut in alle Netze: In den Küchen
kochten die Speisen über, die Schleusen, die zuletzt auf Öffnung programmiert
waren, öffneten sich, die automatischen Hotelbusse fuhren aufs Flugfeld und
wurden Opfer des Zyklons, noch ehe die Schleusentore sich wieder schlossen, und
der Fusionsreaktor fiel wieder aus.
„Achtung! Hier spricht Kapitän Kachaik. Meine Damen und Herren. Der Zyklon hat uns leider eingefangen. Meine Triebwerke sind nicht stark genug, diesen Kräften zu  widerstehen. Ich sende seit Beginn dieser Katastrophe SOS, habe aber bis jetzt
keinen Kontakt bekommen. Wenn wir Glück haben, spuckt uns das Blaue Auge
irgendwann und irgendwo aus. Ob wir mit dem Schrecken davonkommen oder –. Das
weiß nur das allmächtige Weltall.“
Ein Krachen geißelte das Schiff, als sei das Ende gekommen. Fast wäre es auch so
gewesen, doch das Blaue Auge hatte wohl gerade einen Augenblick des Erbarmens.
Der Hotelbus streifte nur das Schiff, verursachte aber keinen größeren Schaden.
Die Drehung des Schiffes selbst kam zur Ruhe, aber noch immer wurde es von dem
Wirbelsturm in seinem Kreis herumgeschleudert. Kapitän Kachaik versuchte alles,
auszubrechen, aber es gelang nicht. Der Wirbel selbst zeigte sich sehr stabil
und sein Durchmesser betrug etwa hundertzwanzig Kilometer, so dass das Schiff
eine gute „Überlebenschance“ hatte. Inzwischen betrug die Flughöhe fünfzehn
Kilometer, die Luftmassen in dem Wirbel zogen das Schiff aber noch immer
spiralförmig in die Höhe.
Erneut meldete sich Kapitän Kachaik über die Sprechanlage seines Schiffes: „Achtung.
Hier spricht der Kapitän. Wir befinden uns derzeit in mehr als 15000 Metern
Höhe. Ich hoffe, dass ich, wenn wir am oberen Ende des Zyklons angekommen sind,
die Möglichkeit habe, aus dem Trichter heraus zu starten. Das wird unsere
einzige Chance werden. Klappt es nicht, wird uns der Zyklon irgendwann wieder
hinunterziehen und wir werden am Boden zerschellen. Seid also nicht überrascht,
wenn euch der Andruck in die Sitze drückt. Versucht derweil ein wenig zu
schlafen. Ende.“
Die Sonne ging auf. Es war nicht die Sonne des Planetensystems, es war eine
„künstliche“ Sonne. Der Fusionsreaktor in Nujinchiware war explodiert. Die Welt
des Eises schmolz dahin. Allmählich bildete sich ein Ozean auf der planetaren
Oberfläche, der allmählich die Stadt überschwemmte. Trotzdem verdampfte der
Großteil des schmelzenden Eises sofort und schneite auf der anderen
Seite des Planeten wieder herunter.
Drei Elemente trafen aufeinander: Wasser in Form von Dampf, Feuer einer kleinen
Sonne und das eisige Sauerstoffgemisch der Atmosphäre in Gestalt des
permanenten Wirbelsturms.
Das Ende war unbeschreiblich. Hier prallten Energien aufeinander, die vorzustellen
kein menschliches Gehirn in der Lage war. Energien, die den Planeten von etwa
der Größe des Jupiter auseinanderrissen.
Die Explosion schleuderte Kachaiks Schiff mitsamt der Atmosphäre ins All. Der
Planet selbst barst auseinander und seine Trümmer flogen durch das System.
Kapitän Kachaik, seine Mannschaft, die Touristen in der Krankenstation und Kachaiks
Passagiere kamen tatsächlich mit dem Schrecken und kleineren Verletzungen
davon. Sie sahen auf den Monitoren wie sich auf dem Eisplaneten feurige Risse,
rotglühende Flüsse verbreiteten und riesige Dampfwolken in den nahen Raum
aufstiegen. Das Schiff trieb in das All hinaus und Kapitän Kachaik musste erst
einmal Positionen errechnen, ehe er irgendeinen Kurs programmieren konnte.
Seine Passagiere und die Mannschaft sahen derweil den Jet, der von der
Explosion etwa zwei Lichtjahre ins All reichte und langsam schwächer wurde.
Kapitän Kachaik ließ seine Computer die Koordinaten für den Rückflug seines Schiffes
errechnen und brachte sein Schiff auf Kurs. Guten Flug!
Es hätte alles auch anders kommen können, wenn …